Die Stunden mit Lesen verzaubern!
Ich bin Seinab, 32 Jahre alt. Geboren bin ich in Deutschland. Gemeinsam mit meinem Mann Mohammed und den drei Kids, Ali (12), Yusef (9) und Yana (6) lebe ich seit gut zehn Jahren in Österreich in einem kleinen Dorf am Land, das mittlerweile zu unserer Heimat geworden ist. Für unser Dafürhalten sind wir gut integriert und haben auch viele Kontakte zu den Nachbarn und Freunden, die verstreut in Österreich und Deutschland leben. Urlaub machen wir meist bei meinen Eltern in Deutschland oder auch Verwandten im Libanon. Beruflich mache ich seit einigen Jahren Übersetzungen, habe ein Buch zum Thema „Kopftuch ABC“ geschrieben und arbeite jetzt seit neuestem im Social Media Bereich für das ipi-Institut, was mir sehr entgegen kommt, da ich mir die Zeit für die Arbeiten sehr flexibel einteilen und so immer für meine Kinder da sein kann, wenn sie mich brauchen. Auch jetzt, da uns das Corona-Virus fest im Griff hat und uns alle vor neue Herausforderungen stellt.
Vergangenen Mittwoch wurde von den Schulen hier in unserer Gemeinde bereits bekannt gegeben, dass diese ab nächster Woche geschlossen sind, auch der Kindergarten. Am Donnerstag Morgen konnten ich das bereits offiziell in der Zeitung lesen.
Wie vermutlich Millionen von Eltern, die weltweit davon betroffen sind, gehen mir jetzt viele Gedanken durch den Kopf. Wobei ich ja, wie gesagt, den großen Glücksfall habe, dass ich mir die Arbeit frei einteilen und so die Kinder selber gut versorgen kann. Viele meiner Freundinnen haben es nicht so gut und haben jetzt richtig Stress, die Kinderbetreuung zu organisieren. Für uns alle, und das haben wir gemeinsam, geht es in den kommenden Wochen darum, einen geregelten Tagesablauf auch ohne Schule und Kindergarten zu finden und vor allem für die Kinder, die Zeit gut zum Lernen zu nutzen.
Dazu braucht es eine fixe Tagesstruktur. Denn Kinder brauchen Orientierung und auch einen geregelten Tagesablauf, auch wenn keine Schule ist. Auch das habe ich in den letzten Jahren gelernt. Bei uns beispielsweise wird in den kommenden Wochen in der Früh normal, also so, als wenn Schule wäre, aufgestanden. Natürlich nicht um sechs Uhr, aber schon so zeitig, dass wir am Vormittag genügend Zeit zum Üben und Lernen haben. Nach dem Frühstück – das sicherlich etwas ruhiger abläuft und auch länger dauert, als wenn die Kinder aus dem Haus müssen – wird ab 9 Uhr am großen Esstisch im Wohnzimmer gelernt. Mit Pause etwa bis Mittag. Wir haben jede Menge Übungszettel, die man sich aus dem Internet ausdrucken kann, Bücher mit den Lernstoffen der vierten Klasse Volksschule und der zweiten Klasse der Neuen Mittelstunde bzw. auch Unterlagen für die Vorschule und auch Lernspiele am Tablet und Laptop. Dazu gibt es die Übungsmappen, die die Jungs von ihren Schulen mit nach Hause gebracht haben und die wir ausarbeiten müssen. Also genügend Material und wenn wo was fehlt, kann man ja selber Übungszettel machen.
Nach dem Mittagessen geht’s dann hinaus in die frische Luft, wenn es das Wetter zulässt. Auch hier haben wir Glück, da wir ja am Land wohnen und rundherum noch viel Natur und gesunden Lebensraum haben. Am Nachmittag darf dann auch ein bisschen Fern geschaut werden oder es wird gespielt oder gebastelt – meine Freundin Edith hat uns schon ihre Bastelkiste vorbeigebracht, mal sehen, was die Kinder draus machen – und nach dem gemeinsamen Abendessen wird vor dem Einschlafen vorgelesen, bevor ich dann meine Übersetzungsarbeit mache oder Aufträge für ipi erledige.
Das Vorlesen vor dem Einschlafen ist bei uns in den letzten Jahren zu einem fixen Ritual geworden, quasi zu unserer verzauberten Stunde. Mittlerweile können auch die beiden Buben schon sehr gut lesen und übernehmen auch manchmal das Vorlesen.
Das mit dem Vorlese-Ritual war nicht immer so. Ich habe zwar immer schon gerne gelesen und meinen Kindern, als sie noch klein waren, auch immer wieder einmal vorgelesen. Wie wichtig jedoch regelmäßiges Vorlesen ist, sowohl für die Persönlichkeits-Entwicklung der Kinder als auch für deren Lese- und Sprachkompetenz, ist mir erst im Leseprojekt klar geworden, bei dem meine beiden Söhne mitgemacht haben und in das Yana in gut einem Jahr einsteigen kann. Über das Projekt werde ich euch ein anderes Mal erzählen.
Wie kann ich die Stunden mit Lesen verzaubern?
Heute erst einmal ein paar Tipps, wie ihr die Zeit, die eure Kinder jetzt ungeplant daheim sind, gut nutzen könnt und von denen auch alle in der Familie, wenn die Schule wieder losstartet, profitieren können. Euren Kindern tut ihr damit Gutes und ihr bereitet sie so auch gut auf das weitere Leben vor. Zuerst ein paar Gedanken, warum Rituale wichtig sind und wie man Vorlesestunden – verzauberte Stunden, die Meghan Cox Gurdon (unser heutiger Buchtipp weiter unten) mit Ritualen einführen und gestalten kann. Ein paar Überlegungen zum Stellenwert von Lesen in unserer hektischen, vom Konsum dominierten Welt und ein paar Buch-Tipps für Erwachsene und Kinder.
ipi-Infos zum Vorlesen
Die Lesestunde als Ritual: Für unsere Kinder sind Rituale, also Dinge, die immer wiederkehren und ihnen Orientierung und Halt geben, sehr wichtig. Alles was regelmäßig geschieht und stets nach dem gleichen Schema abläuft, akzeptieren Kinder leichter. Außerdem gibt es ihnen ein Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit, lässt aber auch kreative Räume, indem Rituale im Kern zwar gleichbleiben, in Details aber verändert werden können. Rituale sind…
Lesestunde-Rituale können sein: Vorlesen immer zur gleichen Stunde an einen kuscheligen Ort im Wohn- oder Schlafzimmer, an einem schönen Platz im Freien oder auch in einem Zelt oder einer großen Decke im Garten (bei Schönwetter 😊), am Dachboden, in der Werkstatt des Papas, im Büro,… – hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.
Die Lese-Orte können auch „dekoriert“ werden mit Kerzen, Polstern, Plüschtieren oder Lieblingspuppen, die zuhören. Oder es gibt Tee und Kekse als Einstiegs- oder Ausstiegsritual der Lesestunde, eine Klangschale, mit der die Stunde ein begleitet oder abgeschlossen wird und, und, und….
Warum Vorlesen?
Leider ist Vorlesen in den letzten Jahren nicht zuletzt aufgrund der Informationsflut, die über Smartphone, Fernsehen und Internet im Sekundenrhythmus auf uns einstürmt, aus der Mode gekommen. Bei Leseprojekten finden wir immer wieder skeptische Eltern, die den Wert des Lesens nicht sehen und es als „altmodisch“ und „überholt“ abtun.
Dem können wir entgegenhalten: Viele wissenschaftliche Studien zeigen, wie wichtig es ist, dass Kinder gut lesen lernen und welchen Stellenwert dabei das Vorlesen hat.
Denn: Beim Lesen entstehen Bilder im Kopf. Kinder, mit denen man liest und denen man vorliest, haben mehr Fantasie und kennen ihre Gefühle besser bzw. können sie diese auch besser benennen, weil sie sich mit ihren Helden identifizieren, mit deren Abenteuern mitfiebern und sich dabei auszudrücken lernen. Digitale Medien oder Fernsehen sind hier immer hinten dran, weil diese durch die vorgegebenen Bilder die Gefühle des Kindes viel weniger anregen. Das ist Faktum und mittlerweile auch durch moderne Messmethoden in der Hirnforschung nachweisbar. Darüber hinaus macht das Lesen aber auch gesellschaftsfähiger und „sozialer“. Die Stiftung Lesen hat gemeinsam mit der Zeitung „Zeit“ und der Deutsche Bahn Stiftung in einer ihrer Lesestudien nachgewiesen, dass Kinder, die lesen, auch gute Freunde sind und viele Freunde haben. Umso erschreckender, dass nur 32 Prozent der befragten Eltern in Deutschland ihren Kindern höchstens einmal pro Woche vorlesen, was viel zu wenig ist. Am besten wäre, täglich vorzulesen, es muss ja nicht immer eine ganze Stunde sein – die „Verzauberung“ funktioniert auch kürzer. Die Regelmäßigkeit bringt aber den Erfolg.
Der beste Weg, Kindern Spaß am Lesen zu vermitteln ist sicherlich, ihnen vorzulesen. Also, wer es nicht regelmäßig macht, sollte unbedingt die Probe aufs Exempel wagen und gleich damit beginnen: eine Vorlesestunde mindestens dreimal die Woche, ein paar Leseminuten jeden Abend vorm Bettgehen. Egal, welche Orte, Zeiten und Rituale gewählt werden. Es zahlt sich aus. Und irgendwann werdet ihr selber merken: Es gibt nichts Schöneres, als den Kindern vorzulesen und mit ihnen gemeinsam die Verzauberung beim Lesen zu erleben!
ipi – Buchtipp für Erwachsene
Meghan Cox Gurdon, Die verzauberte Stunde, Warum Vorlesen glücklich macht, Berlin 2019, Insel Verlag
Meghan Cox Gurdon ist Autorin und Kritikerin und rezensiert seit 2005 Kinderbücher für The Wall Street Journal. In ihrem Buch „Die verzauberte Stunde“ beschreibt sie anhand ihrer eigenen Geschichte – sie ist Mutter von fünf Kindern – eindrücklich, wie wichtig das Vorlesen für die Entwicklung unserer Kinder ist. Abgesehen vom Spracherwerb, der dadurch drastisch beschleunigt wird, lernen Kinder ihrer Erfahrung nach auch schon sehr früh, mitfühlend und empathisch zu sein und sie weist auch darauf hin, dass Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, später stärkere Bindungen entwickeln, sich besser konzentrieren können, emotional belastbarer sind und auch ihre Gefühle und Emotionen besser kontrollieren und in adäquater Form ausdrücken können.
ipi – Buchtipps für Kinder
Teichmann, Jürgen, Im Fahrstuhl mit Einstein, 2018 (ab 11 Jahre)
Dietl, Erhard, Die Olchis im Land der Dinos, 2018 (6 bis 8 Jahre) und alle weiteren Olchi-Bücher für verschiedenste Altersgruppen. Bei Mädchen und Buben in unseren Leseprojekten sehr beliebt.
Schneider, Liane und Wenzl-Bürger Eva, Conni lernt Rad fahren, 1999, (3 bis 5 Jahre) und alle Conni-Bücher, die ein guter Einstieg in die Vermittlung von Sachwissen für die Kleinen sind.
Miteinander und voneinander lernen!
Wir werden jetzt regelmäßig Infos und Tipps rund ums Lernen, Erziehung und Bildung in diesen Blog stellen und freuen uns auch über Rückmeldung und eure Erfahrungen zu den jeweiligen Themen bzw. beantworten wir auch gerne Fragen unter office@ipi.co.at oder seinabalawieh@hotmail.de