„Den brauchst du nicht grüßen“, so die Mutter zu ihrem fünfjährigen Sohn, als dieser in die Küche kommt und zum Installateur, der gerade die Spüle repariert, freundlich „guten Morgen“ sagen will. Das sei nur ein Handwerker, beantwortet sie den fragenden Blick und das kleinlaut gemurmelte „Warum?“ des Kindes. Eine andere junge Frau schreit ein paar Tage später ihrer kreischenden Tochter im Supermarkt an, dass sich diese benehmen soll. „Sonst kommst du im Leben nicht weiter und landest auch hinter der Fleischtheke, so wie der da,“ sagt sie etwas leiser. Dabei schaut sie dem Kind tief in die Augen und zeigt mit der rechten Hand in die Richtung des Mannes, der gerade die Wurst für sie aufschneidet. Ihrem abschätzigen Tonfall ist zu entnehmen, dass sie nicht viel von diesem Beruf hält und dem Menschen dahinter keinen Respekt entgegenbringt. Erfundene Beispiele für die Demonstration von schlechtem Benehmen, meinen Sie? Nein, leider weit gefehlt. Wirklich geschehen vor nicht allzu langer Zeit mitten in Deutschland.
„Wir dürfen nicht länger so miteinander umgehen…“[1], möchte man da in Anlehnung an ein Zitat von Gerald Hüther in die Welt hinaus schreien. Der Autor vieler Bücher ist seines Zeichens international anerkannter Hirnforscher und seit Jahren Mahner vor den Auswirkungen der schrankenlosen Digitalisierung und damit einhergehenden emotionalen Verwahrlosung unserer Gesellschaft. Mittlerweile hört man ihm auch zu.
Wenn uns jemand mit Worten angreift, neigen wir in der Regel dazu, uns zu verteidigen und „zurückzuschlagen“. Das lernen wir bereits im Kleinkindalter und kultivieren es auf dem Weg in das Erwachsenen-Leben. Die Digitalisierung mit ihrem Optimierungswahn und Bewertungszwang sowie der enormen Flüchtigkeit tut ihr Übriges dazu. Wer viele Follower, Likes und Facebook-Freunde hat, ist vermeintlich erfolgreich. Dabei wird häufig nicht mehr zwischen der Lebensrealität und der Scheinwelt in den sozialen Medien unterschieden. Dieses ständige Vergleichen, bewerten, was gut oder schlecht ist, und der Zwang, besser, schöner, reicher sein zu müssen als der oder die andere, nährt unsere Neidgesellschaft. Einmal in dieser Haltung gefangen, fällt es schwer, den kritischen Blick auf die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Verhaltensmuster und Werte zu richten. Viel einfacher ist es, den anderen oder die andere, teilt er oder sie unsere Werte nicht, zu kritisieren, abzuwerten, als Mensch zweiter Klasse hinzustellen. Unsere sehr statische Sprache unterstützt uns dabei.
Mit Kritik und Abwertung lenken wir von unserer Verantwortung ab und richten den Blick ausschließlich auf das Unvermögen des anderen. Oft geht es dabei nur mehr um Selbstinszenierung – auch die lässt sich in den sozialen Medien wunderbar antrainieren – und um Scheinen-Wollen. Nur mehr wenige Menschen sprechen in unseren Breitengraden eine Sprache, die auf Angriffe verzichtet und sich auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, aber auch auf jene, die den oft unbedachten Äußerungen des anderen Menschen zu Grunde liegen, konzentrieren. Denn mit dieser Sprache bleiben wir bei uns und erheben nicht den Anspruch, die Wahrheit gepachtet zu haben. Allein dadurch erzeugen wir Empathie und Wertschätzung. Eine Grundvoraussetzung dafür, mit dem Gegenüber in eine respektvolle Beziehung zu treten. Auch mit Menschen, die vermeintlich „schwierig“ sind und anders ticken als wir selbst.
Mit Empathie, Respekt und Wertschätzung gelingt ein gutes und solidarisches Zusammenleben auch in unserem zunehmend digitalisierten, entgrenzten und oft fremdbestimmten Leben. Es ist eine Frage der Haltung und eine Frage unseres Menschenbildes, wie wir miteinander umgehen. Das Verhalten der beiden jungen Mütter zu Beginn des Textes ist jedenfalls nicht nachahmenswert. Dialogfähigkeit, die zum Beispiel auch mit dem Modell der gewaltfreien Kommunikation trainiert werden kann, und Achtsamkeit können uns auf dem Weg zu einer wertschätzenden Haltung begleiten und zu einer respektvollen Lebenseinstellung beitragen. Und weil man damit nicht früh genug beginnen kann, gibt es für theoretische Hintergründe aber auch gezielte Seminare und Trainings sowie jede Menge Sachbücher. Einige zu diesen Themen finden Sie im ipi-Shop unter www.ipi.co.,at/Shop
In meinen Coachings orte ich in den Erstgesprächen bereits nach wenigen Minuten immer öfter Überforderung. Meist stellt sich schnell heraus, dass nicht die Fülle der Aufgaben meine Klientinnen und Klienten stresst, sondern vielmehr das permanente Gefühl des Fremdbestimmtseins. Denn das schränkte unsere Entscheidungskompetenz empfindlich ein. Das Gefühl, keine Kontrolle mehr über die Fülle der täglichen Aufgaben zu haben, ist das, was uns planlos macht und enorm viel Energie verbraucht. Das macht richtig Stress. Und richtig kombiniert: hier spielt die eingangs angesprochene permanente Reizüberflutung durch die Digitalisierung und insbesondere durch die sozialen Medien eine zentrale Rolle. Für manche gehört das ständige Chatten, Piepsen der eingehenden Nachrichten, schnell mal Videos schauen etc. zum Leben. So nennen Jugendliche in Befragungen auf die Frage, was das Wichtigste in ihrem Leben sei, seit einigen Jahren in schöner Regelmäßigkeit nicht mehr Familie und Freunde an erster Stelle, sondern das Smartphone. Dieses kleine technische Wunderwerk, das uns an vielen Stellen den Alltag erleichtert, in aber auch zur Hölle machen kann.
Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Unser wichtigster „Rohstoff“, schreibt Alexander Markowetz bereits vor sieben Jahren in seinem Buch „Digitaler Burnout“[2] ist der Geist. Wenn man davon ausgeht, dass mentale Gesundheit eine zentrale Grundlage für Produktivität ist, und diese laut vieler Untersuchungen und wissenschaftlicher Studien durch exzessive Smartphon-Nutzung gefährdet ist, wird seiner Einschätzung nach die Smartphon-Nutzung mittel- und langfristig volkswirtschaftlichen Schaden verursachen. Denn Millionen Nutzerinnen und Nutzer sind seit Jahren dabei, sich eine verringerte Leistungsfähigkeit, anzutrainieren. Von gesundheitlichen Auswirkungen, wie Depressionen, Burn-Out, Hyperaktivität usw. ganz zu schweigen. Vor allem junge Menschen verbringen nicht nur mehrere Stunden ihrer täglichen Lebenszeit mit dem Smartphone, sondern unterbrechen durchschnittlich auch alle 18 Minuten ihre Tätigkeit, um mit dem Smartphone zu hantieren. Wenn man davon ausgeht, rechnet Markowetz in seinem Buch vor, dass wir rund 15 Minuten brauchen, um in einen konzentrierten Flow-Zustand zu kommen, um Dinge zu erledigen, dann bleiben ganze drei Minuten, in denen konzentrierte Tätigkeit möglich ist, bevor die nächste Unterbrechung kommt. Und das geht den ganzen Tag so weiter. Denn nach der Unterbrechung brauchen wir wieder rund 15 Minuten, um konzentriert an einer Aufgabe arbeiten zu können.
Dass der Umgang mit digitalen Geräten einer Ich-Du-Beziehung mit echten, realen Menschen zunehmend im Weg steht, liegt auf der Hand. Aber genau diese Beziehung zu anderen „echten“ Menschen brauchen wir, um Empathie zu trainieren. Der eingangs erwähnte Neurowissenschaftler Gerald Hüther beschreibt in seinem Buch „Etwas mehr Hirn bitte“ die Ursachen der Entwicklung des Menschen zu einem objektbezogenen Wesen, das sich in der digitalisierten und globalisierten Welt nur mehr schwer zurechtfindet und dazu neigt, sehenden Auges mit althergebrachten und seiner Meinung nach falschen Strategien ins Chaos zu rennen. Ja vielleicht sogar, darin unterzugehen.
Denn Menschen werden durch Beziehung gesteuert und nicht durch Gene oder Gehirne – das ist bekannt, seit es Menschen auf dieser Erde gibt und wird in den letzten Jahrzehnten eindrücklich durch viele wissenschaftliche Befunde bestätigt. Wenn es Menschen wieder mehr gelingt, Ich-Du-Beziehungen aufzubauen und die Ich-Es-Beziehungen oder Objektbeziehungen, wie Hüther sie nennt, abzubauen, kann den Herausforderungen der sich rasant verändernden Welt begegnet und manchen Trends auch nachhaltig etwas entgegengesetzt werden. „Wir können anfangen, einander zu begegnen. Statt uns gegenseitig zu Objekten unserer Bewertungen, Absichten und Maßnahmen zu machen, könnten wir einander auch einladen, ermutigen und inspirieren, unsere Lust am eigenen Denken und unsere Freude am gemeinsamen Gestalten wiederzuentdecken. Nur so wird es gelingen, die in jedem Einzelnen und in jeder menschlichen Gemeinschaft angelegten Potentiale zur Entfaltung zu bringen“[3].
In eine ähnliche Kerbe schlägt das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, der Dalai-Lama[4]. Er ist davon überzeugt, dass nur Werte unsere aus der Balance geratene Welt retten können. Solche Werte sind für ihn Achtsamkeit, Mitgefühl, Geistesschulung sowie das Streben nach Glück statt nach materiellen Werten. Der Schlüssel dazu sei Mitgefühl, das seiner Ansicht nach jeder Mensch von Geburt an in sich trägt, ebenso wie das Bestreben, Leid zu vermeiden. Säkulare Ethik allein ist aber auch für ihn mittlerweile zu wenig, die aus dem Lot geratene Welt wieder in Balance zu bringen. Dazu brauche es eine Revolution der Empathie und des Mitgefühls. Eine Revolution aller bisherigen Revolutionen. Eine Revolution des Herzens. Damit fordert der buddhistische Mönch Tenzin Gyatso, vierzehnter Dalai-Lama, einen Paradigmenwechsel. Ähnlich, wie ihn auch der Ökonom und Soziologe Jeremy Rifkin, der eine Geschichte der Zivilisation abseits von Kriegen und Hass entwirft und dabei seine Vision einer neuen Ära beschreibt, vorschlägt. Für den weltweit anerkannten Wissenschaftler ist der Schlüssel für jegliches menschliche Zusammenleben in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die Empathie. Eine Gabe, die es uns ermöglicht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und bei allem, was wir tun, die Konsequenzen zu bedenken. Dabei geht Rifkin von der These aus, die auch Neurowissenschaftler wie Gerald Hüther vertreten, dass der Mensch nicht von Natur aus egoistisch, aggressiv und ein Einzelkämpfer ist, sondern ein Wesen, das nur auf Basis von Beziehung zu anderen, durch Kooperation, Solidarität und Mitgefühl lebensfähig ist, also von Empathie geleitet wird. Und Empathie leitet sich nun mal nicht vom Perfekten, sondern vom Unperfekten ab.
Schon der griechische Universalgelehrte Aristoteles[5] hat vor mehr als 2300 Jahren behauptet, dass Menschen durch und durch soziale Wesen sind, die andere brauchen, um glücklich sein zu können. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Je individualisierter und narzisstischer eine Welt wird, umso schwieriger wird es auch, sich in Sozialbeziehungen – Face to Face, und nicht in virtuellen Räumen – die Energie zu holen, die wir zum Leben brauchen. Denn das, was wir heute sind, was wir wissen und all die Dinge, die unser Menschsein ausmachen, haben wir über Jahrtausende in der Beziehung zu anderen, in der Gemeinschaft, die uns schützt und in der wir uns geborgen fühlen, entwickelt. Selbsttranszendenz und Selbstinszenierung sind das, was uns laut Viktor Frankl[6] ausmacht. Also über sich hinausschauen aber auch einen Schritt neben sich zu treten und sich aus der Distanz zu beobachten.
Besonders dann wichtig, wenn es um starke Gefühle wie Hass, Neid, Angst oder Wut geht. Von der „Trotzmacht des Geistes“ spricht der anerkannte Neurologe und Psychiater, Begründer der Logotherapie, der selbst das Konzentrationslager überlebt und auf Basis der Erfahrungen von Leid, Verlust und Todesangst seine Existenzanalyse entwickelt hat. Aggression und Angst treiben Menschen oft zu gewalttätigen Handlungen. Durch die Selbstdistanzierung gelingt es, sich vom Getriebensein zu distanzieren und Alternativen zur Gewalt zu finden. Quasi dem Trieb zu „trotzen“ und einen Sinn in den Dingen, die uns im Laufe eines Lebens als Aufgabe gestellt werden, zu erkennen. Dabei wird der Raum genützt, der zwischen Reiz und Reaktion liegt. Denn die Entscheidung, wie wir diesen Raum nutzen liegt immer bei uns. Auch in Krisenzeiten oder nach schweren Schicksalsschlägen. Die „Trotzmacht“ hilft uns dabei, sich nicht ständig verführen zu lassen und bringt unsere Entscheidungsfähigkeit zurück. Und wie wir bereits wissen: wer auch bei Überlastung noch das Gefühl hat, sein eigener Herr/die eigene Herrin zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, ist wesentlich widerstandsfähiger als Menschen, die im vermeintlichen Chaos gefangen sind.
„Unser Gehirn ist ein soziales Konstrukt, individuell einzigartig, aber geformt durch unsere jeweiligen in der Beziehung zu anderen Menschen gemachten Erfahrungen“[7]. Räume und Systeme, in denen der Mensch, egal welchen Alters, in der Beziehung zu anderen Erfahrungen sammeln kann, sind nicht nur Familien und Peer-Groups, sondern auch Kindergärten, Schulen, Orte des Lernens, Projekte für Jugendliche, aber auch Betriebe. Hüther regt an, sich als Mensch, in unserem Fall als Erziehender, Führungskraft, Pädagoge, Coach, Berater oder Ausbildner in einem Betrieb, Gedanken zu machen, was jeder Einzelne dazu beitragen kann, dass wir wieder mehr in Ich-Du-Beziehungen eintreten und dadurch verhindern, dass unsere Kinder und Jugendlichen die angeborene Lust am eigenen Denken und Gestalten verlieren[8].
Also warum nicht jetzt auf den Weg machen und erforschen, welche ungeahnten Potentiale sich auftun, wenn wieder mehr Augenmerk auf Respekt vor dem anderen und dem Leben generell, Wertschätzung, Toleranz und Empathie gelegt wird und junge Menschen in der Orientierung an Grenzen, aber auch Werten sich entwickeln und entfalten können. Denn „wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun“. Diese gern in Glückwunschkarten zitierte Aussage des berühmten französischen Komödiendichters Moliere kann ein täglicher Gradmesser für unser Handeln werden.
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Übungen-Teil-2-aus-SL-6-Achtsamkeit
[1] Hüther, Gerald (2015), Etwas mehr Hirn bitte, Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
[2] Alexander Markowetz (2015), DIGITALER BURNOUT; Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist, München
[3] Hüther, Gerald (2015), Etwas mehr Hirn bitte, Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, Seite 18
[4] Dalai Lama, Cuttler, Howard C. (2012), Die Regeln des Glücks, Das Handbuch zum Leben, Seite 9ff
[5] Düring, Ingemar (1966), Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg
[6] Frankl, Viktor E. (2015), … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Neuausgabe, 7. Auflage
[7] Hüther, Gerald (2015), Etwas mehr Hirn bitte, Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, Seite 35
[8] Hüther, Gerald (2015), Etwas mehr Hirn bitte, Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, Seite 180