David Bohm
Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in seiner Eröffnung der Bregenzer Festspiele im Sommer 2023 für Empörung gesorgt. Nicht, weil er Unanständiges gesagt hat, sondern weil er die Menschen zu mehr Dialog-Bereitschaft aufgeforderte. „Reden Sie miteinander“, lautete sein Appell. „Mit Menschen ins Gespräch kommen, die man nicht kennt und die eigene Meinungsblase, in der ein Großteil von uns gefangen ist, dadurch zum Platzen bringen.“ Van der Bellens persönliches Rezept gegen Ab- und Ausgrenzung, das er dem Publikum ans Herz legte. Es waren sehr einfache, aber enorm starke Bilder, die er in seiner Rede erzeugte und die offensichtlich für so manchen unangenehm waren, was die vielen Reaktionen an den Tagen danach zeigten.
Van der Bellen hat mit seiner Klarheit sichtlich den Nerv der Zeit getroffen. Die Diskussionen, die diese Rede nicht nur im Publikum, sondern in ganz Österreich auslöste und die vielen Stellungnahmen, zu denen sich verschiedenste Menschen genötigt sahen, sind mehr als Beweis dafür. Soziale und Print-Medien waren die Tage nach der Eröffnungsfeier voll des Lobes, aber beinahe noch mehr der Kritik an den Aussagen des Staatsoberhauptes der Alpenrepublik.
Ja, eh, möchte man sagen. Wir reden ja miteinander – aber tatsächlich meist nur mehr mit Menschen, die in „unserer Blase“ unterwegs sind und ähnlich ticken wie wir. So richtig bewusst wurde mir das bereits vor beinahe zehn Jahren, als ich meine heutige arabischstämmige Freundin das erste Mal traf. Eine junge Mutter aus dem mittleren Osten, die mir in der Phase des Kennenlernens viel aus der Heimat ihrer Eltern erzählte. Dabei verwendete sie regelmäßig Redewendungen, die mit „bei euch ist das so, aber bei uns …“ begannen. Irgendwann fragte ich sie, was sie denn mit „bei euch“ und „bei uns“ genau meinte. War sie selber doch in Deutschland geboren, also deutsche Staatsbürgerin und Europäerin. Die deutsche Kultur in vielen Belangen der österreichischen sehr ähnlich. Ihre Kinder hatten alle drei in Österreich das Licht der Welt erblickt, wo die junge Frau gemeinsam mit ihrem arabischen Mann damals bereits seit mehreren Jahren wohnte. Alle drei besaßen ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft. Meine Irritation war groß. Denn immer, wenn sie von „uns“ sprach und sich damit von der österreichischen Kultur abgrenzte, erzählte sie nicht von Deutschland, sondern von ihrem arabischen Herkunftsland.
Der Kultur und Mentalität ihrer Eltern und Großeltern, die sie zwar aus Besuchen in der ehemaligen Heimat ihrer Eltern, die als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen waren, kannte, in der sie aber nicht aufgewachsen war. Wenn wir über Religion sprachen, dann konnte ich das „bei uns“ und „bei euch“ nachvollziehen, da wir hier einmal das Christentum und dann wieder den Islam benannten. Doch nicht bei den vielen Dingen, die unser alltägliches Leben betraf. Heute spricht sie immer öfter auch von „uns hier in Österreich …“, scheint also langsam angekommen zu sein in dieser Welt, in der sie lebt und in der sie sich mittlerweile mit vielen Dingen identifizieren kann.
Diese Beobachtungen des sprachlichen Abgrenzens der eigenen Identität fällt mir seither verstärkt auf. Nicht nur in der Politik – diese hatte Alexander Van der Bellen vermutlich im Fokus, als er die sprachliche Ab- und Ausgrenzung in seiner Rede ansprach – sondern generell. Im ganz normalen Alltag. Es werden Grenzen gezogen zwischen mir und den anderen, zwischen meiner Meinung und der Meinung der anderen und die „Anderen“ werden zunehmend zu Feinden. Die Sozialen Medien beflügeln diese Entwicklung rasant. Nicht erst seit Corona. Innerhalb ein paar Sekunden weiß man, was andere tun und denken und kategorisiert, ob sie dazugehören zu „uns“, oder dem Feindeslager – den „Anderen“ zuzurechnen sind.
Mit denen, die nicht unsere Weltanschauung teilen, wollen wir in der Regel nichts mehr zu tun haben. Denn Dialog ist tatsächlich anstrengend. Da muss ich zuerst einmal hinschauen, zuhören und auch aushalten können, dass es Widersprüche zwischen meiner Wahrnehmung der Welt des Gegenübers gibt. Das kostet Zeit und Energie. Von beiden haben wir oft nur mehr wenig, wenn wir in den Mühlen des Alltags stecken. Und so ist es besser, einmal gleich abzugrenzen, den „Anderen“ abzuwerten und auszugrenzen oder im besten Fall noch zu streiten, wenn es darum geht die eigene Position zu verteidigen oder durchzusetzen.
Dann interessiert es uns keinen Pfifferling, warum diese „Anderen“ anders denken. Woher ihre Erfahrungen kommen und was sie antreibt, genau das Gegenteil von dem zu behaupten, was zu unserer eigenen „Wahrheit“ gehört. Sufi Rumi – ein weiser islamischer Philosoph – hat vor mehreren hundert Jahren einmal gemeint, dass es jenseits von richtig (meiner Wahrheit) und falsch (deiner Wahrheit) einen Ort gibt, an dem wir uns treffen und austauschen können. Leider suchen wir diese Orte heutzutage immer seltener auf. Sehr schnell sind wir in unseren Urteilen und beim Schubladisieren. Das, was der „Andere“ denkt, interessiert uns kaum. Denn recht haben wir ja immer, solange wir in unsere Blase sind. Dort finden wir – heute unglaublich schnell und einfach – viele Gleichgesinnte, die uns in unserem Denken und unseren Vorurteilen bestätigen. Die, die das tun, bekommen unsere Anerkennung (Daumen hoch beim Liken), die, die anders denken oder tun, werden als „Ignoranten, Ewiggestrige oder Spinner“ abgestempelt (Daumen runter) und fliegen nicht selten gleich raus aus unseren Blasen. Und umgekehrt funktioniert es genauso. So kommen wir nicht mehr in einen echten Dialog der getragen ist von Respekt dem anderen gegenüber und Wertschätzung. Uns fehlen schlichtweg die geeigneten Werkzeuge dazu. Unsere statische Sprache taugt nicht für unsere dynamische Welt. Uns fehlen in vielen Bereichen schlichtweg die Wörter, um Gefühle und Bedürfnisse adäquat ausdrücken zu können.
Sprache schafft Bewusstsein. Und die Grenzen unserer Sprache, bedeuten auch die Grenzen unserer Welt, wie ein gewisser Herr Wittgenstein, seines Zeichens Philosoph und noch dazu einer der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts vor mehr als 100 Jahren festgestellt hat. Der Ausspruch stammt aus seinem Werk „Tractus Logico- Philosophicus“, in welchem er sich mit der Bedeutung und Logik der Sprache auseinandersetzt. Sprache, so war er überzeugt, ist entscheidend dafür, wie ich die Welt erfasse – egal, ob in der sozialen Dimension oder auf naturwissenschaftlicher oder philosophischer Ebene. Mit Sprache schaffen wir Wirklichkeit. Und Sprache ist ein Mittel, die mir hilft, mit meinen eigenen Bedürfnissen in Kontakt zu kommen und dem anderen in adäquater und wertschätzender Form mitzuteilen, was ich brauche, um mich wohl zu fühlen. Denn grundsätzlich will jeder Mensch diesen Zustand erreichen. Egal, wo er lebt auf dieser Erde, was er ist und welche Religion er hat.
Das Gegenüber so behandeln, wie man gerne selbst behandelt werden will, das möchte doch jeder. Denn es liegt in der Natur des Menschen, dass wir von Geburt an grundsätzlich einfühlsam mit uns selber und auch mit unserer Umwelt umgehen wollen. So die These, die der Entwicklung der Gewaltfreien Kommunikation zugrunde lag. Erst im Laufe des Erwachsenwerdens kommt uns diese Einfühlsamkeit abhanden. Wie diese Einfühlsamkeit (wieder)hergestellt bzw. auch erhalten werden kann, war eine der zentralen Fragen, die den Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall B. Rosenberg im vorigen Jahrhundert beschäftigte. Angetrieben von Beobachtungen und eigenen Erfahrungen als Kind jüdischer Einwanderer im Amerika der Kriegs- und Nachkriegszeit fand er eine Antwort auf die Frage, wie Menschen auch in extremen Ausnahmesituationen empathisch und dem anderen zugewandt und damit in guter Beziehung zu ihrem Umfeld bleiben können. Er fand heraus, dass unsere Sprache und die Worte, die wir verwenden, maßgeblich dazu beitragen, dass wir mit uns selbst und mit anderen einfühlsam umgehen. Wer mit seinem Innersten in Kontakt ist, richtet auch in schwierigen Situationen, in denen es um Differenzen und nicht um Gemeinsamkeiten geht, den Blick darauf, was er in der jeweiligen Situation empfindet und versucht zu erforschen, welche Bedürfnisse in seinem Innersten unerfüllt bleiben. Er oder sie übernimmt also für das eigene Empfinden, Denken und Handeln Verantwortung.
Indem wir mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) ein Werkzeug an der Hand haben, das unsere Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, die Beobachtungsgabe und das Zuhören nach innen und außen schärfen, gelingt es zunehmend leichter, unsere eigenen Gefühle zu benennen und die unerfüllten Bedürfnisse dahinter erkennen zu können. Dadurch entsteht ein Fluss zwischen „mir“ und „dir“. Dieses Fließen macht eine gute Kommunikation und Dialog möglich. Ein wertschätzendes Miteinander, das dem österreichischen Staatsoberhaupt ein Herzensanliegen ist, wie man seiner Homepage-Startseite entnehmen kann. Nicht der Blick auf die vermeintlichen Fehler und Unzulänglichkeiten des Gegenübers stehen im Mittelpunkt, sondern jene auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Das Trennen unserer Beobachtung von unserer der Bewertung, die in der Regel sofort folgt, war für Rosenberg und ist für viele Coaches und Beratergenerationen nach ihm der Schlüssel zum Geheimnis, wie unterschiedlichste Menschen mit ihren unterschiedlichsten Bedürfnissen gut, respektvoll und wertschätzende miteinander auskommen können.
Die GFK ist eine Sprache, die sich nicht in statischen Beschreibungen und Abgrenzungen zwischen dem ich und den anderen erschöpft, sondern in Bedürfnissen spricht und getragen wird davon, was wir fühlen brauchen und worum wir bitten. Sie ist von Empathie getragen und eröffnet uns einen Blick drauf, was der andere fühlt, braucht und worum er oder sie bittet. Als Haltung verinnerlicht, hat dieses Modell Transformationscharakter. Probieren Sie es aus. Verlassen Sie Ihre Blase und achten Sie darauf, wie Sie ihre Sprache einsetzen. Ganz in dem Sinne, wie der österreichische Bundespräsident am 19. Juli 2023 bei den Bregenzer Festspielen mahnte: „Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Sprache wieder zum Ausgrenzen verwendet wird. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass wieder von einem WIR und den ANDEREN gesprochen wird!“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wenn uns jemand mit Worten angreift, neigen wir in der Regel dazu, uns zu verteidigen und »zurückzuschlagen«. Am einfachsten geht das, wenn wir andere abwerten und kritisieren. Dann lenken wir von unserer Verantwortung ab und richten den Blick ausschließlich auf das Unvermögen des anderen. Wer die Gewaltfreie Kommunikation, die Giraffensprache (Sprache des Herzens), wie sie auch in der Seminaristik gerne bezeichnet wird, beherrscht, verzichtet auf Angriffe und konzentriert sich auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, aber auch auf jene, die den oft unbedachten Äußerungen des anderen Menschen zu Grunde liegen. Das erzeugt Wertschätzung und macht respektvolle Beziehungen möglich. Auch zu Menschen, die vermeintlich »schwierig« sind und anders ticken als wir selbst.
Die Reihe „Gewaltfreie Kommunikation für Kinder und Jugendliche. Lese- und Arbeitsbücher“ gibt in den Geschichten von Yana, Paul und der Giraffe SAM Einblicke in die Geheimnisse dieser gewaltfreien Sprache, die im Grunde genommen ein Ausdruck unserer Haltung ist.
Die Lese- und Arbeitsbücher eignen sich für das gemeinsame Lesen von Eltern und Kinder zu Hause ebenso wie für den Einsatz im Unterricht oder in Projekten, die gutes Zusammenleben im Fokus haben. Es geht darum, eigene Muster im Denken, Sprechen und Handeln zu erkennen und neue Haltungen erarbeiten zu wollen, die ein besseres, einfühlsameres Zusammenleben eröffnen. Gratis zu den Lese- und Arbeitsbüchern gib es auch das Giraffenlied zum Downloaden und weitere Materialien zum Vertiefen und Üben auf der Website unter www.ipi.co.at/downloads
GFK Band 1: Yana Paul und die Giraffensprache, 100 Seiten, ISBN9798728429616
GFK Band 2: Willi der Wolf lernt die Giraffensprache, 72 Seiten, ISBN9798572137248
GFK Band 3: Sei achtsam. Zu dir, den anderen und deiner Umwelt, 110 Seiten, ISBN9798595404389
Giraffensprache, Ein Lern- und Lehrbuch, 2. Auflage 2021, 79 Seiten, ISBN 979-8-73001-052-9
www.ipi.co.at/shop oder direkt bei Amazon unter www.amazon.de (Stichwort: Edith Konrad)